Kennst Du diese Wundertüten, welche man als Kind auf dem Jahrmarkt gekauft hat? Als Kind war dies eine Tüte voller Möglichkeiten. Es war aufregend sich eine zu kaufen, um dann zu entdecken, was sich darin befindet. Im Erwachsenenalter ist dies der Sextoy-Kalender, welchen man sich als Paar zu Weihnachten gönnt. Der Schmetterlingsring wird lediglich mit einem Penisring vertauscht. Der Überraschungseffekt bleibt der Gleiche. Diese Glückspielexperience hast du auch bei Dating-Apps.
Die Chance, dass Du in der Tüte nicht das findest, was Du Dir erhofft, ist ziemlich wahrscheinlich. Aber was ist, wenn Du ein echtes Schmuckstück findest? Was ist, wenn Du findest was Du Dir erhoffst hast? Ob Wundertüte, Sex-Kalender oder Dating-Apps. Der Mensch steht auf Glückspiele und das motiviert ihn immer wieder aufs Neue, sich auf eines einzulassen.
Ich matche mit Oliver über App und wir beginnen, uns zu unterhalten. Die Konversation läuft gut, Oliver hat Humor und ist schlagfertig. So verabreden wir uns in der Stadt. Etwas trinken gehen und danach Essen. Von Oliver kenne ich nur die Hälfte seines Gesichts, mehr ist auf dem Foto nicht zu erkennen. Dennoch lasse ich mich darauf ein und stelle meine Risikobereitschaft unter Beweis. Oliver ist Lehrer, arbeitet aktuell als Tontechniker. So viel habe ich noch herausgefunden, bevor wir uns treffen. Und wenn Du glaubst, ich erzähle dir vom Glückstreffer des Jahrhunderts, muss ich Dich leider enttäuschen.
Das Glücksspielgefühl verfliegt in der Sekunde, als ich Oliver am Bahnhof erblicke und er sich mir erwartungsvoll nähert. Er sieht anders aus als auf dem Foto, wobei ich fairerweise sagen muss, dass ich mir die andere Hälfte des Gesichts ausgemalt habe. Schön ist, dass wir uns durch die gleiche Körperhöhe direkt in die Augen schauen können. Oliver ist also 1.61m gross. Das macht mir grundsätzlich nichts aus, aber während des Dates hat Charly angerufen und wollte seinen Umpa-Lumpa zurück. Okay, vielleicht ist das etwas gemein und so will ich grundsätzlich nicht sein. Oliver ist jetzt da und ich kann mich zumindest mit ihm unterhalten.
Ich muss schmunzeln und frage mich, wie ich es jedes Mal wieder schaffe, mich in solche Situationen zu bringen. Doch der Mensch hat einen natürlichen Spieltrieb. Und so sitze ich erneut an Tisch «Blind-Date» und stelle fest, dass ich echt miserabel im Setzen bin. Vielleicht sollte ich der Jahrmarktindustrie Schuld geben und den Wundertüten. Die Gambling-Experience für Minderjährige. Der erste Berührungspunkt für substanzunabhängige Suchtmittel. Einstiegsdroge Wundertüte, wenn man so will. Doch offensichtlich packt mich immer wieder die Lust, einen erneuten Versuch zu starten. Schliesslich werden die Karten täglich neu gemischt.
Ob Spielhalle, Casino oder Blind-Dates über App, alles kann Spass machen, frustrieren oder sich zu einer Sucht entwickeln.
Ich sitze mit Oliver im Burgerrestaurant und frage mich, ob ich langsam ein Problem habe. Wie oft muss ich noch auf den falschen Match setzen, damit es mir zu blöd wird. Und falls ich ein Problem habe, an wen wende ich mich da? Tinder-Anonymus? Will man vom Online-Dating wegkommen, was ist die Alternative? Menschen im echten Leben kennen lernen? Das war schon vor der Pandemie nicht einfach. Und nähert man sich zur Zeit einem Menschen auf weniger als 1.5 Meter, kann dies als Körperverletzung gelten. Zudem bleibt das Problem bestehen, dass man nur die Hälfte des Gesichts kennt! Eventuell bleibt Speed-Dating in der Glasbox eine Variante. Kennenlernen durchs Plexiglas. Kann dies irgendwo angebracht werden?
Oliver schaut mich ohne Schutzmassnahmen von der anderen Seite des Tisches an und ich erkenne, wie er sich mehr und mehr freut, den Abend mit mir verbringen zu können. Von den verschiedenen Massnahmen, die man in dieser Situation anwenden kann, entscheide ich mich für die Hauruck-Variante. Ich teile es ihm mit, dass dies mit uns nichts wird. Sorry Oliver.
Das ist der Moment, wo Heidi in der Jury sitzt und sagt: «Es tut mir leid, aber ich habe heute leider kein Foto für dich». Und genau wie die Models, nimmts Oliver einigermassen ok auf. Mit Tränen in den Augen schaut er mich an und bedankt sich für den Abend und die Ehrlichkeit. Und genau wie Heidi, habe ich diesen starren Blick drauf, der Bedauern, aber auch Entschlossenheit ausstrahlt. Denke ich zumindest. Vielleicht sah ich auch aus, als hätte ich gerade ein Chinchilla überfahren. Ich weiss es nicht.
Du fragst Dich jetzt, wie ich zum Entschluss kam, ihm dies direkt mitzuteilen. Auch hier spielt Glücksspiel eine Rolle und was es in dieser Welt für Gaming-Typen gibt. Ich beziehe mich im folgenden Abschnitt auf männliche Exemplare, was weibliche nicht ausschliessen soll. Eventuell hilft Dir das Ganze auch einmal, also pass gut auf Kiddo.
Als erstes haben wir den «Explorer». Für ihn ist das Spielerlebnis wichtig. Er möchte entdecken und erfahren, was es in der Spielwelt so alles gibt. Der Explorer wird dir gut zuhören, aber auch erwarten, dass du ihm etwas Spannendes zu bieten hast. Schliesslich steht er auf Rollenspiele in zweierlei Hinsicht und eine gute Geschichte macht die Hälfte des Erlebnisses aus. Den Explorer erkennst du an seinen Reisefotos und im Bett geht er gerne auf Entdeckungstour. Pass dabei auf, dass er in seiner Experimentierfreudigkeit, nicht das Ziel aus den Augen verliert.
Weiter gibt es den «Achiever». Er möchte das Spiel unbedingt gewinnen und die eigenen Fortschritte sehen. Der Achiever ist bestimmt sportlich aktiv, zeigt stolz seine Wanderbilder und was er nebenberuflich alles kann. Wenn Dir dieser Typ begegnet, wird er versuchen dich zu beeindrucken. Dabei kann er etwas zu viel von sich reden und im Sextalk vergewissert er sich, ob Du schon gekommen bist. Dementsprechend legt er sich aber auch ins Zeug.
Der Dritte Spielertyp ist der «Killer». Ein etwas beunruhigender Name, will man ihn mit Dating in Verbindung bringen. Doch das kommt davon, dass er im Spiel ganz klar Siegen will und seine Gegner bezwingen. Ego-Shooter sind daher sein Favorit. Der Killer muss nicht aggressiv sein. Er ist der Typ Mann, der bereit ist einiges zu investieren, um dich von ihm zu überzeugen.
Der letzte im Bunde ist der «Socializer». Ihm macht es Spass, friedvoll zu interagieren. Er ist der Farmsimulator unter den Games. Suchst du etwas Ruhiges und Beständiges, ist er der Richtige. Eventuell läufst du Gefahr, zu viel davon zu haben. Doch der Socializer lässt sich für dich auch aus der Reserve locken und deine Freundinnen werden ihn lieben.
Da Oliver Lehrer ist, ging ich davon aus, dass er zur letzteren Sorte gehört. So kann er mein « Leider Nein» gut aufnehmen.
Ich möchte noch hinzufügen, dass jedem Gamer-Typ respektvoll mitgeteilt werden kann, dass man kein Interesse hat. Der Killer droht Dir vielleicht noch, Dich in Counter-Strike fertig zu machen, aber da gibt es schlimmeres. Mit Konsequenzen umgehen und diese tragen zu können, wird im Gaming-Fachjargon «Responsible Gambling» genannt. Das heisst, dass auf die Eigenverantwortung der Spieler plädiert wird. Im Casino eine clevere Variante, um keine Verantwortung für die Gäste übernehmen zu müssen. Doch Eigenverantwortung gibt es auch beim Daten, wieso also nicht auf «Responsible Dating» plädieren?
Responsible Dating ist aktuell noch weitreichender und müsste darauf hinweisen, dass jeder in Zeiten einer Pandemie genug Menschenverstand hat, um zu wissen, wie riskant Dating aktuell ist. England ist anderer Meinung. Wird die Situation schlimmer, werden One-Night-Stands verboten werden. One-Night-Stand-Verbot im Kampf gegen die Pandemie, ist Englands Devise. Dafür wird die Sex-Polizei eingeschaltet werden. Patrouillen verteilen morgens keine Parkbussen, sondern kontrollieren wer nach Walk-of-Shame aussieht. England will von Responsible Dating nichts wissen.
Gut sitze ich in einer Bar in der Schweiz und der Abend neigt sich langsam dem Ende zu. Oliver muss den letzten Zug nach Hause erwischen und ich bin froh, gibt dies eine Deadline vor. Er ist tatsächlich der Socializer-Typ. Beim Verabschieden teilt er mir noch mit, dass er nebenberuflich Dealer ist. Sollte ich etwas brauchen, kann ich mich gerne bei ihm melden.
Ja, so ist das im Wundertütenspiel. Du erhoffst Dir einen potenziellen Partner und bekommst einen Dealerkontakt. Kehre ich dem Spiel deshalb den Rücken zu? Natürlich nicht. Also reich Aunty die Würfel, klopfe drei Mal auf den Tisch und wünsch ihr Glück, dass beim nächsten Zug die Würfel besser liegen.
In dem Sinne, have fun and stay safe.

Dreus, N., Wuketich, M. (Hrsg.) (2019). Ambivalenzen des Glückspiels aus soziologischer Perspektive. In Wöhr, A., Wuketich, M. (Hrsg.). Multidisziplinäre Betrachtung des Phänomens Glückspiel. (S. 25-45). Stuttgart: Springer VS
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